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Ohne Melange konnte Paul Muad'dib nicht die Zukunft vorhersehen. Wir wissen, dass dieses Element außerordentlicher Macht einen Fehler in sich barg. Es kann nur eine Antwort geben, nämlich dass absolut genaue und vollständige Vorahnungen tödlich sind.
Bronso von Ix,
Historische Analyse: Muad'dib
Bronso blieb schweigsam, als er von Carthag fortgebracht wurde. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Vibrationen des Militärtransporter-Thopters, der hoch über die Dünen hinwegflog und Mondschatten auf den offenen Sand warf. Das Brummen der Maschinen erinnerte ihn an die großen Industrieanlagen auf Ix. Er würde sie nie wiedersehen ... aber damit hatte er schon seit Jahren nicht mehr gerechnet.
Obwohl er sich danach sehnte zu erfahren, ob Jessica selbst der Falle entkommen war, wollte Bronso seinen Häschern keine Fragen stellen oder auch nur ein Wort sagen. Von nun an würden seine Manifeste für ihn sprechen müssen. Es waren seine Worte, mit klarem Geist und reinem Gewissen geschrieben. Andere würden sie verbreiten und dafür sorgen, dass sie nicht an Bedeutung verloren. Andere würden damit fortfahren, Fragen aufzuwerfen und Zweifel zu wecken.
Bronso wappnete sich: Er würde nicht zulassen, dass irgendwelche unter der Folter erzwungenen Geständnisse oder Verfälschungen die von ihm geleistete Arbeit zunichte machten. Ja, er hatte manche Tatsachen über Muad'dib ausgeschmückt, extrapoliert und sogar das eine oder andere zurechtgebogen, bis es passte, aber nur, um die ebenso falschen Absurditäten auszugleichen, denen Alia Vorschub leistete. Ganz gleich, wie nachdrücklich das Qizarat versuchte, seine Schriften zu unterdrücken, es würden Exemplare erhalten bleiben. Und im Laufe der Zeit würde die Wahrheit über alle Lügen triumphieren.
Aber Bronso würde das nicht mehr miterleben. Dessen war er sich sicher.
Zumindest hatte er seine Mutter befreit und konnte sich mit dem Wissen beruhigen, dass Tessia auf Caladan ein Zuhause und Frieden finden würde. Dafür würde Jessica sorgen ...
Bronsos Todeszelle auf den tiefsten Ebenen unter der Festungszitadelle bot keinerlei Annehmlichkeiten, nicht einmal eine Pritsche zum Schlafen. In einer Ecke befand sich eine kleine Rückgewinnungsdestille für körperliche Ausscheidungen. An dem in der Luft hängenden Geruch erkannte er, dass die Destille vor kurzem benutzt worden war, und die Versiegelung war alt. Er fragte nicht, was aus dem vorherigen Bewohner der Zelle geworden war.
Er versuchte, auf dem harten Plazbeton-Boden der Zelle zu schlafen. Matte, nackte Leuchtgloben waren die einzige Lichtquelle, weshalb er das Verstreichen von Stunden und Tagen nicht unmittelbar wahrnahm, doch mit seinem in die Unterarmhaut implantierten ixianischen Zeitmesser konnte er exakt jede einzelne endlose Sekunde verfolgen.
Aber die Zeit spielte nun keine Rolle mehr.
Bei jeder Regung draußen auf dem Korridor vor seiner dickwandigen Zelle setzte er sich auf und dachte daran zurück, wie Paul bei seinem letzten Aufenthalt hier zu ihm gekommen war. Imperator Paul Muad'dib hatte persönlich alle Wachen entlassen oder abgelenkt und dann die Zellentür geöffnet, um Bronso durch leere Gänge und staubige Tunnel fliehen zu lassen.
Bei dem Gedanken daran musste er lächeln. Ja, selbst all die Jahre, nachdem sie als Jungen zusammen unterwegs gewesen waren, hatte Paul an sein Versprechen gedacht. Er hatte seinen ixianischen Gefährten beschützt, ihm das Leben gerettet, indem er ihn heimlich freigelassen hatte. Bronso war seinem Fluchtweg durch die dunklen Straßen Arrakeens gefolgt.
Wochen öffentlicher Empörung hatten sich angeschlossen, sowie eine erfolglose Suche nach Verrätern auf den Gefängnisebenen des Festungspalasts. Der verhasste Bronso von Ix war aus dem sichersten Gefängnis des Wüstenplaneten entkommen, wie ein Zauberer oder Dämon.
Es war noch nicht lange her, da war er der Hinrichtung entgangen und der Gestaltwandler Sielto war an seiner Stelle gestorben – was sehr peinlich für Alia gewesen war. Doch diesmal würde die junge Regentin kein Risiko eingehen. Ihre Priester würden ihn verhören, foltern und dazu zwingen, Widerruf zu leisten, während sie sich eine besonders grausame Hinrichtungsmethode für ihn ausdachte. Er hatte sie schon zu oft gedemütigt, und ihre Feindschaft zu ihm war persönlicher Natur.
Er musste sich nur daran erinnern, was Rhombur zu Lebzeiten durchgemacht hatte: die Explosion des Luftschiffs, der Schmerz, jahrelang mit Cyborg-Ersatzteilen zu leben, der Schock, als er mit ansehen musste, wie sein junger Sohn sich von ihm lossagte. Und er dachte an seine Mutter, die von dem Schuldspruch niedergeschmettert worden war, aber letztlich einen Weg zurück ins Bewusstsein gefunden und jahrelang darauf gewartet hatte, aus den Fängen der Bene Gesserit befreit zu werden.
Wenn seine Eltern all das durchstehen konnten, dann würde Bronso sicher mit ein paar Stunden Schmerz fertigwerden, in dem Wissen, dass all das schon bald vorbei sein würde.
Er ging in seiner Zelle auf und ab und zwang sich dann stillzusitzen, da er mit Sicherheit davon ausging, von versteckten Spionaugen überwacht zu werden. Er würde nicht in dumpfe Verzweiflung abgleiten. Diese Genugtuung wollte er ihnen nicht verschaffen.
Die Temperatur in seiner Zelle stieg an, als würde die brennende Sonne selbst bis in diese Tiefen vordringen. Er schwitzte stark. Wasserverschwendung. Welch eine Ironie.
Wenn er Blätter aus rauem Gewürzpapier gehabt hätte, wäre es ihm möglich gewesen, seine letzten Gedanken niederzuschreiben, sozusagen sein Meisterwerk. Er versuchte, im Staub an den Wänden zu schreiben, aber die Worte waren unleserlich und leicht zu verwischen.
Nach dem Tod seines Vaters hatten die ixianischen Technokraten dem Haus Vernius alles genommen, seiner Familie Macht und Einfluss entzogen und ihn als Galionsfigur behalten, die sie letztlich ebenfalls aufgegeben hatten. Bronso hatte alles, was ihm geblieben war, Paul Atreides gegeben, und zumindest hatte er etwas bewirkt. Das Vermächtnis des »Bronso von Ix« würde weit länger bestehen als alles, was »Bronso Vernius« im Landsraad hätte erreichen können.
Er setzte sich auf den harten Boden und starrte direkt in den Leuchtglobus, ohne zu blinzeln. Es war ihm egal, ob er damit seine Augen schädigte. Paul war von einer Steinbrenner-Explosion geblendet worden – welche Rolle spielte es also, wenn Bronso nun das Augenlicht verlor? Muad'dibs Fanatiker waren die wahren Blinden ... unfähig, das von Bronso Geschriebene zu lesen oder zu verstehen. Leuchtgloben waren viel zu schwach, um mehr zu bewirken als ein Brennen in seinen Augen.
Seine Schriften hatten die ungeschminkten Tatsachen mit allen Makeln betont, um seinen Lesern einzubläuen, dass Paul ein Mensch war und kein Gott und wie jeder andere Mensch auch seinen Schwächen unterworfen war. Eines Tages, wenn er und Paul Atreides im Staub und Schotter von Arrakis vereint waren, würde es keine große Rolle mehr spielen, wie viele Menschen die Gründe für Bronsos Taten kannten. Das Wichtige war, dass ein paar auf seine Botschaft hörten.
Doch als sich irgendjemand – wahrscheinlich Alia – seinen Namen für eine Fälschung angeeignet und ein empörendes Manifest verbreitet hatte, war die Reinheit von Bronsos Unterfangen beschmutzt worden. Sie hatte den Zorn gegen ihn anfachen wollen, um auf diese Weise das Volk den bequemen Illusionen von Irulans Version der Geschichte zuzutreiben. Das machte ihn wütend, doch Lady Jessica kannte die Wahrheit, und er vertraute darauf, dass sie den Historikern dabei helfen würde, durch die trügerischen Gewässer von Fakten und Fiktionen zu navigieren.
Mein Ich, dachte er. Mein Ich verharrt, doch ich muss loslassen ...
Er wünschte, Alia würde ihn den Massen dort draußen vorwerfen. Zweifellos riefen sie Sprechchöre und schrien nach seinem Blut. Sie würden ihn schlagen und niedertrampeln, aber ihre Raserei würde ihm wenigstens ein schnelles Ende bereiten.
»Soll ich dir erzählen, wie du sterben wirst?« Eine weibliche Stimme erfüllte die Zelle.
Bronso blinzelte die blendenden Nachbilder des Leuchtglobus fort und wandte sich um. Die Zellentür stand offen. Er erhaschte einen Blick auf drei grimmig dreinschauende Amazonenwachen, und vor ihnen stand die junge Alia in all ihrer dunklen Pracht. Erst sechzehn Jahre alt ... nur wenig älter als er und Paul zu der Zeit, als sie von Ix fortgelaufen waren und sich den Jongleurs angeschlossen hatten. Die schwarze Robe lag dicht an ihrem Körper an und zeichnete die Konturen ihrer Figur nach. Der rote Falke des Hauses Atreides schmückte eine Seite ihres Kragens. Interessant, dass sie beschlossen hatte, ein Atreides-Abzeichen zu tragen statt der Embleme ihres fanatischen Kults.
Er stand auf und gab sich unnahbar. »Sie sind eine schlechte Gastgeberin, Lady Alia. Soll ich gar keine Nahrung und Wasser erhalten?«
»Auf dem Wüstenplaneten lernen wir, keine Ressourcen zu verschwenden. So machen es die Fremen. Das Wasser deines Körpers wird man in einer Huanui-Todesdestille zurückgewinnen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich kenne das Todeslied der Fedaykin: ›Wer kann den Todesengel zur Umkehr bewegen?‹ Sind Sie mein dunkler Engel, Alia Atreides? Dann zögern Sie nicht. Ich bin schon seit langem zum Sterben bereit.«
Er fragte sich, wie sie reagieren würde, wenn er ihr jetzt erzählte, dass er derjenige war, der Jessica von der Verschwörung der Priesterschaft zur Ermordung von Alia und Duncan berichtet hatte. Bronso bezweifelte allerdings, dass sie in irgendeiner Weise dankbar wäre ... außerdem würde die Information den Verdacht nur auf ihre Mutter lenken.
Alia blieb hochmütig. »Erwarte kein Mitgefühl von mir, nach all dem Schmerz, den du verursacht hast, nach all den Jahren, die du versuchst hast, den Ruf meines Bruders zu zerstören.«
»All den Jahren, in denen ich versucht habe, seine Menschlichkeit zu erhalten.« Bronso machte sich keine Hoffnungen, dass sie es verstehen würde oder verstehen wollte. »Sie haben meine Historische Analyse und andere Werke von mir gelesen, und ich weiß, dass Sie den Zweck meiner Schriften begreifen. Sie haben sie sogar für Ihre eigenen Ziele missbraucht. Heißt es nicht, dass Nachahmung die höchste Form des Lobes ist?«
Alia schüttelte traurig den Kopf, und ihre Miene war voller Enttäuschung. »Sieben Jahre lang haben mein Bruder und ich dich gejagt. Jetzt ... jetzt bist du nur noch ein trauriger, uninteressanter kleiner Mann.« Sie straffte sich und sprach lauter. »Wir haben eine Fremen-Hinrichtungsart gewählt, die für die abscheulichsten Verbrecher reserviert ist. Man wird dich lebendig in die Todesdestille stecken. Wir werden deinem Körper Stück für Stück das Wasser entziehen und dir bis zuletzt dein Bewusstsein lassen.«
Bronso ließ sich sein Entsetzen nicht anmerken. Angst kreischte in ihm. Doch jetzt wusste er es wenigstens. In der extrem heißen Zelle wischte er sich den Schweiß von der Stirn und nahm sein letztes bisschen Tapferkeit zusammen. »Dann sollten Sie sich lieber beeilen. So schnell, wie ich hier drinnen dehydriere, ist bald nicht mehr viel Flüssigkeit übrig, die man aus mir herauspressen könnte.«
Sie drehte sich um und ging, und hinter ihr schlossen die Amazonenwachen die Tür und ließen Bronso mit seinen Gedanken allein. Sie hatte ihn einschüchtern wollen, damit er sich vor seinem Schicksal fürchtete, doch er wusste, dass es die Wirkung seiner Schriften nur schwächen würde, wenn Pauls größter Kritiker sich windend und winselnd starb. Für eine kleine Weile konnte er Paul noch behilflich sein. Er schwor sich, dass er stolz vortreten und sich der Todesdestille hocherhobenen Hauptes stellen würde. Sicherlich würde Lady Jessica zusehen.